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09.12.2015
BiWiNa Position zum neuen Bildungsplan „Wirtschaft“ in Baden-Württemberg
Bonn im Dezember 2015
Die Grün-Rote Landesregierung Baden-Württembergs macht Wirtschaft zum Pflichtfach aller Schülerinnen und Schüler des Landes – und erntete zum Teil heftige Medienkritik für ihren soeben veröffentlichten neuen Bildungsplan. Zu unrecht. Das Curriculum geht interessante neue Wege – und offenbart dennoch weiterhin Mängel aus Sicht einer Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Das Fach solle "Kindern helfen, zu mündigen Wirtschaftsbürgern zu werden“, so Wirtschaftsminister Nils Schmid. Sie sollen die Fähigkeiten bekommen, die Wirtschaft als ein extrem vielfältiges Betätigungsfeld kennen zu lernen, um so verantwortlich darin handeln zu können. Zukünftig werden sie es sein, die nicht nur bestehende, sondern auch neu zu entwickelnde Lösungsansätze auf dem Wege demokratischer Prozesse umsetzen müssen. Ohne gute Wirtschaftskenntnisse wird das nicht möglich sein. Die Einführung eines allgemein bildenden Unterrichtsfachs „Wirtschaft“ ist daher ein wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen und demokratischen Gesellschaft.
Entscheidend ist jedoch, was gelehrt wird. Insofern bedarf es eines genaueren Blicks in den neuen Bildungsplan, der in seinem Vorwort ganz auf Nachhaltigkeit abzielt: „Wie kann eine effiziente und gleichzeitig gerechte Versorgung trotz begrenzter Ressourcen und daraus resultierender Verwendungskonkurrenzen erreicht werden?“ Mit diesem Problemaufriss vor Augen gehen die Verfasser des Curriculums dann tatsächlich neue Wege.
Einerseits werden die zu vermittelnden Kompetenzen in Individuelle Dimension, Dimension wirtschaftlicher Beziehungen sowie Dimension Ordnung und System unterteilt. Im Bildungsplan für die Jahrgänge 8, 9 und 10 schlüpfen die Schüler zunächst in die Rolle als Konsument* , dann als Berufswähler, Arbeitnehmer oder Unternehmer, schließlich als Bürger in einer ökonomisch geprägten Gesellschaftsordnung. In den Jahrgängen 11 und 12 werden wissenschaftspropädeutische Grundlagen für BWL und VWL gelegt, der Unterricht nach globalem Güter-, Arbeits- und internationalen Finanzmärkten gegliedert. Besonders erfreulich ist, dass neben „Beruflicher Orientierung“, „Medienbildung“ und „Verbraucherbildung“ auch die (anderweitig umstrittene) Leitperspektiven „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“, „Prävention und Gesundheitsförderung“ und eben „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ berücksichtigt werden.
Bei den Themenfeldern bzw. Kompetenzformulierungen zeichnet sich das Curriculum durch einige erfreuliche Ansätze aus dem Bereich BNE aus. So verbindet z.B. „Verbraucher“ ökonomisches Handeln mit nachhaltigem Konsum und – und das ist wirklich neu – mit dem Verzichtsgedanken. Hier klingen die drei Nachhaltigkeitsstrategien Ökoeffizienz, Konsistenz und Suffizienz an. Gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten werden kontinuierlich thematisiert und junge Menschen zur Partizipation ermutigt. Bemerkenswert ist ferner, das nach 50 Jahren Wirtschaftsdidaktik dieser Bildungsplan erstmals auf den Bezugs zum „Magischen Viereck“ im Stabilitätsgesetz verzichtet, vielmehr wird die didaktische Aufbereitung der Beziehungen zwischen ökonomischen, sozialen und ökologischen Zielgrößen offen gelassen. Bei der Behandlung der globalen Gütermärkte erhält der Faire Handel breiten Raum. Auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen internationaler Umwelt- und Sozialabkommen wird aufgeworfen. Schließlich problematisiert der Begriff „Marktmacht“ die Rolle transnationaler Konzerne, so dass insgesamt von einer ausgewogenen Darstellung der Globalisierung gesprochen werden kann. Besonders interessant ist der abschließende Themenbereich „Ökonomie und Kultur“. Dort sollen Bezüge von Ökonomie und Kulturmedien wie Literatur, Film oder Internet ins Blickfeld rücken. Hier ist der Bildungsplan in höchstem Maße innovativ.
Dennoch zeigt sich, dass auch dieser Bildungsplan Lücken aufweist, wenn es um die konkrete Integration der Nachhaltigen Entwicklung in fachwissenschaftliche und curriculare Themenstellungen geht: Die verwendeten Grundlagenmodelle wie der „Erweiterte Wirtschaftskreislauf“ abstrahieren vom übergeordneten ökologischen System, Wirtschaft wird vielmehr ganz traditionell als reines Tauschsystem abgebildet. Nachhaltigkeit und ethische Fragen werden unter den Bestimmungsgrößen der Marktnachfrage ausgeklammert (obwohl sie in der Einleitung zum Fach noch genannt wurden). Dass viele Produkte, die wir alltäglich benutzen, ganz oder in Teilen in Ausland hergestellt werden und die dortigen Betriebe nicht unbedingt die anerkannten sozialen und Umweltstandards erfüllen, fehlt im Bildungsplan, ebenso wie gegenseitige Verantwortung als geeignetes Bildungsziel. In der sehr ausführlichen Behandlung der Rolle der Lernenden als „Berufswähler“ fehlen ethische Motivationen, die durch die wachsende Zahl an sozialen und „grünen“ Berufsbildern befriedigt werden könnten. Genau so wenig wird einer möglichen Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft zur Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft Rechnung getragen, es geht weiterhin nur um den traditionellen Gegensatz von Zentralverwaltungswirtschaft und dezentral organisierter Marktwirtschaft. Wie seit Jahrzehnten üblich, erschöpft sich die Kompetenzformulierung in der Betrachtung angebots- und nachfrageorientierter Denkschulen, die beide unkritisch vom Wirtschaftswachstum als gesamtökonomische Maximierungsgröße ausgehen. Auch bei den Kompetenzformulierungen zum Arbeitsmarkt fehlen kritische Töne. Das Thema wird recht traditionell gegliedert, wobei die individuellen Gründe für Arbeitslosigkeit den strukturellen vorangehen, so dass das Arbeiten an der eigenen „Erwerbsbiografie“ als besonders zielführend dargestellt wird.
Wie der volkswirtschaftliche geht auch der betriebswirtschaftliche Teil des Bildungsplans weit über allgemein bildende Kompetenzen hinaus, abstrahiert dabei aber leider weitgehend von der Frage der Nachhaltigkeit. Das ist schade, da solche Fragen direkt in eine betriebswirtschaftliche Entscheidungsfindung gehören. Es ist offensichtlich, dass die Lernenden in diesem Bildungsplan in besonderem Maße mit unternehmerischem Denken konfrontiert werden. Es stellt sich durchaus die Frage, ob angehende Abiturienten bereits über derart tiefe Einblicke ins Unternehmensmanagement verfügen müssen, und ob die Option „Unternehmer“ eine derart fokussierte Rolle einnehmen sollte. Oder ist dies nur länderspezifisches Tribut an den viel beschworenen schwäbischen Mittelstand?
Insgesamt ist die Anhörungsfassung des neuen Bildungsplans zur Wirtschaft für allgemein bildende Schulen in Baden-Württemberg ein Schritt in die richtige Richtung – die multiperspektivische Struktur entspricht der Konzeption der „BiWiNa-Themensammlung Wirtschaftskompetenz“, BNE ist eine der zentralen Leitperspektiven bei den Kompetenzformulierungen und Fragen der Nachhaltigen Entwicklung findet in deutlich mehr Kompetenzformulierungen ihren Platz, als man dies von früheren Bildungsplänen gewohnt war. Dennoch weisen die Kompetenzformulierungen noch zahlreiche Lücken und Inkonsistenzen auf, wenn es um eine durchgängige Integration der Nachhaltigkeit in den Unterricht geht, vor allem im betriebswirtschaftlichen Teil. Gut gemeint, in weiten Teilen gut gemacht, und mit viel Potenzial nach oben. Die anderen Bundesländer sollten Baden-Württemberg folgen und die vorhandenen Lücken schließen.
Diese BiWiNa-Position basiert auf einem ausführlichen Fachartikel von Patrick Brehm und Ignacio Campino, beides Mitglieder von BiWiNa, den Sie unter dem Text als Download finden. Über Rückmeldungen und Anregungen freuen wir uns. Bitte schreiben Sie uns.
Kontakt: info@biwina.de
*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.


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